HAMAS, ISRAEL: DAS BÖSE, GUTEN GEWISSENS

Ich hatte nicht vor, mich über die Terrorattacke der Hamas auf Israel und die israelische Gegenreaktion weiter zu verbreitern. Aber die Rede von Herta Müller in Stockholm, die ich gestern gelesen habe, bringt die Problematik großartig auf den Punkt, insbesondere die Rolle der universitären Sympathisanten der Hamas.

Um es vorwegzuschicken: Ich bin mein Leben lang schon ein Liebhaber der jüdischen Kultur in jeder Form, und ebenso lang bin ich ein scharfer Kritiker der israelischen Politik. Israels Politik für fundamental falsch, kontraproduktiv und letztendlich selbstschädigend zu halten, bedeutet für mich aber nicht im Umkehrschluss, mich mit den palästinensischen Terrororganisationen von PLO bis Hamas im Mindesten zu solidarisieren. Dieses „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“, „Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde“ und ähnliche Haltungen sind mir zutiefst zuwider: Sie sind in ihrem Schwarzweiß-Denken vereinfachend, polarisierend, und katastrophal unterkomplex. Denn den ewigen Konflikt zwischen Israel und Palästina nur in Schwarz und Weiß, Recht und Unrecht, Gut und Böse denken zu können, wird der tatsächlichen Komplexität dieses Konflikts nicht nur nicht gerecht, er torpediert sogar jedes differenzierte Verständnis und Urteil.

Beide Seiten sind Opfer, beide sind Täter, aber das Verbrechen der Hamas am 7. Oktober 2023 wird (hoffentlich) als Terror nach dem Muster des Nazi-Terrors in die Geschichte eingehen, als ein weiterer Kulturbruch. Es nur als Bestialität zu bezeichnen, wäre einerseits eine Untertreibung, andererseits eine Herabwürdigung der Tierwelt (lat. bestia = Tier), deren natürlicher Adel ja gerade darin besteht, Bosheit überhaupt nicht zu kennen. Nein, das war das Gesicht des Bösen in seiner genuin menschlichen Reinform.

Pascal traf den Kern dieser Art von Bosheit, als er schrieb: „Jamais on ne fait le mal si pleinement et si gaiement que quand on le fait par conscience“, „Nie tut man Böses so vollkommen und so freudig, als wenn man es guten Gewissens / bewusst tut.“ Die Hamas hat dieses Massaker in höchster moralisch-religiöser Begeisterung durchgeführt, bewusst und in vollkommenem Einklang mit ihrem Gewissen.

Angesichts dessen, wie dieses pure Böse am 7. Oktober gewütet hat null Mitgefühl für dessen unschuldige Opfer zu empfinden, diese totale moralische Taubheit der abendländischen „Intelligenzija“ macht mich sprachlos. (Deshalb auch bisher mein ratloses Schweigen.) Zudem, wenn diese völlige Taubheit ansonsten stets mit einer zur Schau gestellten Überempfindlichkeit und moralischen Empörung gegen jeden Anschein von Diskriminierung verbunden ist. Die Hamas klopft sich über den Manipulations-Erfolg bei ihrer fünften Kolonne stolz auf die Schulter.

Herta Müller macht die Paradoxie mit aller Deutlichkeit klar:

„Es ist doch absurd, dass etwa Homosexuelle und queere Menschen für die Hamas demonstrieren – wie auch am 4. November in Berlin. Es ist doch kein Geheimnis, dass nicht nur die Hamas, sondern die ganze palästinensische Kultur LGBTQ verachtet und bestraft. Allein eine Regenbogenfahne im Gazastreifen ist unvorstellbar. Der Sanktionskatalog der Hamas für Schwule geht von mindestens hundert Peitschenhieben bis zum Todesurteil. Bei einer Umfrage von 2014 in den palästinensischen Gebieten sagten 99 Prozent der Befragten, Homosexualität sei moralisch inakzeptabel. Man kann es auch satirisch zuspitzen wie der Blogger David Leatherwood auf „X“: Als queerer Mensch für Palästina zu demonstrieren sei wie als Huhn für Kentucky Fried Chicken zu demonstrieren. […]
Mich würde es nicht wundern, wenn unter den Demonstranten nicht auch Studenten wären, die vor einigen Monaten noch mit der Parole „Frauen, Leben, Freiheit“ gegen die Unterdrückung im Iran protestierten. Es entsetzt mich, wenn dieselben Demonstranten heute solidarisch sind mit der Hamas. Mir scheint, dass sie den abgründigen Gegensatz der Inhalte gar nicht mehr kapieren. Und ich frage mich, wieso es ihnen egal ist, dass die Hamas nicht einmal die kleinste Demo für irgendein Frauenrecht zulassen würde. Und dass am 7. Oktober geschändete Frauen als Kriegsbeute vorgeführt wurden.“

Wenn Müller das als geradezu „debil“ bezeichnet, ist das eine nachvollziehbare Polemik, aber sie vernebelt den Blick auf die Wurzel dieser emotionalen und intellektuellen Aufspaltung.

Was die linken Hamas-Fans ebensowenig zustandebringen wie erschütternd viele Europäer, die den -zigtausend seit dem 7. Oktober getöteten Palästinensern, ist beiden Seiten dieses Konfliktes empathisch verstehend (nicht verständnisvoll) gegenüberzustehen. „Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft“ – dieser Satz aus Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit, der mich seit Jahrzehnten begleitet trifft den Kern dessen, was religiöse und politische Überzeugungstäter und ihre Anhängerschaft nicht auf die Reihe bekommen. Sie sind unfähig, sich ihren Ideen oder Ideologien erlebend gegenüberzustellen; darum geraten sie unter deren Knechtschaft. Das ist typisch für alle Fanatiker, gleich welcher Religion, gleich welcher Ideologie: je blindwütiger sie sich mit ihrer Überzeugung identifizieren, desto tauber werden sie gleichzeig für religiös Andersgläubige und politisch Andersdenkende. Womit wir wieder bei Pascal wären: „Nie tut man Böses so vollkommen und so freudig, als wenn man es guten Gewissens / bewusst tut.“

Dass sich bei den Hamas-Fanboys & -girls nicht einmal für die Opfer des Gemetzels vom 7. Oktober Mitleid regt, belegt einen schockierenden Mangel an empathischem Verständnis, verstehender Empathie. Sie können sich weder ihrem Israel-Hass noch ihrer Hamas-Sympathie gegenüberstellen. Das macht es einfach, nur eine Seite als Täter und die andere als Opfer hinzustellen. Sie sind imstande, zu realisieren, dass die Welt um ein Vielfaches schwieriger zu verstehen und der Konflikt um ein Vielfaches schwieriger zu lösen ist als mit ihrem Schwarz-weiß-Denken. Es würde erfordern, den Konflikt in seiner ganzen Komplexität wahrnehmen und verstehen zu wollen. Genau an dieser Fähigkeit gebricht es ihnen ganz massiv: Komplexitäts-Verständnis. Ihre Gefühllosigkeit den Opfern gegenüber, ihre einseitige Parteinahme gegen Israel und für die Hamas (die dann in einem Schwung auch gleich einen lange verschämt kaschierten Antisemitismus triggert) ist die Manifestation fatalen Unfähigkeit, Komplexität zu erkennen und auszuhalten. 

Genau dasselbe Urteil ist über jene Zuschauer des Gaza-Krieges zu fällen, die von weit weg gefühlskalt dem Sterben in Gaza zuschauen, als ob die inzwischen über 35.000 Opfer – größtenteils unschuldigen Kinder, Frauen und Männer! – keine Menschen wie sie selbst wären. Wo ist sie, die eigentlich ur-menschliche, instinktive empathische Reaktion? Die Leute, die sonst das ganze Jahr aus ihrer Dauerempörung gar nicht mehr herauskommen: wo bäumt sich etwas in ihnen auf, wenn sie im Fernsehen beim abendlichen Bierchen die Toten und Verwundeten in völlig zerstörten Städten sehen? „Ja, mei…“

So viel zu „normalen“, spontanen menschlichen Reaktionen, für die es keinerlei höhere Intelligenz braucht. Dazu kommt aber noch die Komplexität dieses Konflikts. Jede Seite hat sich seit 1948 laufend Unrecht zuschulden kommen lassen, und auf jedes Unrecht folgte die Rache, die wieder neue Reaktionen / neues Unrecht provozierte… Diese jahrzehntelange Eskalation ist nicht von der noch älteren und ebenfalls hochkomplexen religiösen und politischen Gemengelage des Nahen und Mittleren Ostens zu trennen. Den Überblick über all die Regime, die sich seit 1948 in diesen regionalen Konflikt vor und hinter den Kulissen eingemischt haben und ihn zu einem globalen gemacht haben, habe ich schon lange verloren. Hier gibt es keine eindeutige Sichtweise und keine simple Lösung mehr. Beide Seiten sind Täter, beide sind Opfer; am allermeisten sind es die Toten und die Geiseln des 7. Oktober, und was soll man zu den -zigtausend palästinenschen Opfern des israelischen Vergeltungskrieges nun sagen? Den jahrzehntelangen kriegerischen Konflikt nun auf ein eindeutiges Gut-Böse zu vereinfachen, weder für die eine noch für die andere Konfliktpartei, ist reduktionistisch und unterkomplex. Weder wird es der Vieldimensionalität des Konflikts gerecht, noch seiner zahlreichen, mit einander verknüpften Ursachen und Folgen, die in einer sich ständig verändernden, unüberschaubaren Wechselwirkung stehen.

Der französische Soziologe und Philosoph Edgar Morin hat vor einem Vierteljahrhundert sieben Anforderungen für das Bildungswesen der Zukunft formuliert, die ich hier zusammengefasst habe. Sie machen die Grunddefizite der Palästinenser-Fans vollkommen deutlich: Sie haben nicht gelernt, ihre eigenen Überzeugungen und sich selbst erlebend zu reflektieren, und sie haben nicht gelernt, mit Komplexität umzugehen. Mit anderen Worten, in ihnen manifestiert sich – trotz oder gerade wegen ihrem hohen Bildungsgrad – ein fatales Bildungsversagen:

„Da wir aber unsere gesamte Intelligenz dazu erzogen haben, Komplexität zu ignorieren, und da wir unsere gesamte Intelligenz darauf verwenden, Komplexität zu unterdrücken, versagt unsere Intelligenz angesichts von Komplexität.“
Edgar Morin

Das schlagende Beispiel dafür sind zum einen die Hamas-Sympathisanten. Ihre ganze eindimensional hochgezüchtete Intelligenz versagt angesichts von Komplexität. Und was bei ihrer einseitig intellektuellen Bildung ebenfalls auf der Strecke geblieben ist, war Herzensbildung. Es gebricht ihnen daran, 1. ihr Wissen in ein komplexes Gesamtbild einzuordnen, 2. ihre persönliche Haltung in diesem komplexen Ganzen einzuordnen, 3. sich ihren Weltanschauungen, Werthaltungen erlebend gegenüberzustellen, und 4. insbesondere an Gewissen

Zum anderen ist das eklatante Fehlen von Herzensbildung auch bei jenen zu konstatieren, die über die palästinensischen Opfer der israelischen Vergeltung nur die Schultern zucken. Ich kann es wörtlich wiederholen: Es gebricht ihnen daran, 1. ihr Wissen in ein komplexes Gesamtbild einzuordnen, 2. ihre persönliche Haltung in diesem komplexen Ganzen einzuordnen, 3. sich ihren Weltanschauungen, Werthaltungen erlebend gegenüberzustellen, und 4. insbesondere an Gewissen

Diese Art von abgekoppelter, eindimensionaler „Bildung“ ist freilich typisch für das heutige Bildungswesen. Was sie charakterisiert, ist intellektueller Drill statt Herzensbildung. Es ist zwar nicht so, dass die Schulen nicht Moral und Gewissen ansprächen, aber das Ergebnis ihrer Didaktik ist größtenteils Wissen, was moralisch ist (nach wessen Urteil übrigens?), Wissen was Gewissen ist (nach welchem Wertesystem?), nicht lebendige Moral, lebendiges Gewissen selbst. 

Wenn der Bildungsweg auch Herz und Moral entwickeln soll, muss er tiefer ansetzen: er muss nicht bloß Bildung sein, sondern Erziehung. „Lernen“ muss als Entwicklungerkannt und methodisch gehandhabt werden. Das hat zur Konsequenz, dass das moralische Empfinden früher angelegt werden muss als in dem Alter, wo die Schüler Morins Bildungsweg gehen könnten; in einer Entwicklungsphase, wo die Kinder Sympathie für das Gute entwickeln und Antipathie gegen das Böse.

Wer diese moralischen Empfindungen nicht schon als Kind gelernt hat, wird als Erwachsener weder bei Terror gegen Unschuldige Abscheu und Empörung empfinden, noch beim Anblick abertausender unschuldiger Opfer der israelischen Vergeltung. Und wer später nicht gelernt hat, reflektiert mit Komplexität umzugehen, wird den militärischen Terror der IDF gerechtfertigt finden oder sich mit Terroristen identifizieren und Terror gegen Unschuldige als „Freiheitskampf“ glorifizieren: „From the river to the sea, Palestine will be free!“ Die Folge sind linke oder rechte Fanatiker, denen auch Gewalt als Mittel zur (Wieder)herstellung von „Gerechtigkeit“ erlaubt erscheint, wo nicht sogar notwendig und gut. Worin sich die Akteure des Bösen und ihre Sympathisanten wieder treffen. „Nie tut man Böses so vollkommen und so freudig, als wenn man es guten Gewissens / bewusst tut.

Hinterlasse einen Kommentar