ISRAEL/PALÄSTINA: DIE KEIN-STAATEN-LÖSUNG

Wie John Oliver unlängst pointiert klargestellt hat, ist es ein fataler Irrtum, im Israel-Palästina-Konflikt die Israelis bzw. Palästinenser mit ihrer jeweiligen Regierung zu identifizieren. Auch wenn die Hamas „gewählt“ wurde (mit den relativ meisten Stimmen, nicht mit Stimmenmehrheit), waren die meisten Palästinenser damals noch gar nicht auf der Welt. Sie hatten überhaupt noch nie Gelegenheit zu wählen. Zwei Drittel der Palästinenser sind der Meinung, dass das Recht auf Teilnahme an einer friedlichen Demonstration nicht oder nur begrenzt geschützt ist. Drei Viertel der Einwohner von Gaza würden eine friedliche Lösung des Konfliktes vorziehen. Drei Viertel der Israelis wollen, dass die Regierung Netanyahu sofort oder nach Beendigung des Krieges zurücktritt. Seitdem sie ihre Pläne zur Entmachtung der Justiz und zur Aushebelung des Rechtsstaats angekündigt hat, sind Woche für Woche Hunderttausende auf die Straße gegangen, um dagegen zu protestieren – und ohne das Massaker der Hamas würden die Proteste noch andauern.

Netanyahu hat den Konflikt mit den Palästinensern ebenso zynisch für seinen politischen Machterhalt instrumentalisiert wie die Hamas, die ihn gezielt am Kochen hält, weil sie weiß, dass sie durch Polarisierung und weiteren Hass ihre machtstrategische Position festigt. Der Gipfel dieses Zynismus ist ja bekanntlich ihre Taktik, zivile Einrichtungen (Spitäler, Schulen, Wohnhäuser) als Operationszentren für Angriffe gegen Israel zu missbrauchen, um bei etwaigen israelischen Angriffen in lautstarkes Lamento ausbrechen zu können. Kurz, sowohl die Israelis als auch die Palästinenser wurden von ihrer Regierung Länge mal Breite verarscht. Beide Völker wurden von ihren Regierungen für deren eigennützigen Macht-Opportunismus missbraucht. Die überwältigende Mehrheit beider Völker hat den ewigen Konflikt so satt, wie man ihn nur satt haben kann, und wünscht sich eine friedliche Koexistenz – was freilich ihren beiden Regierungen überhaupt nicht ins machtstrategische Konzept passt, weshalb beide Regierungen an einer friedlichen Lösung nicht interessiert sind.

Bisher werden drei Möglichkeiten einer friedlichen Lösung diskutiert: ein Staat, zwei Staaten, oder eine Konföderation. Ursprünglich waren israelische und palästinensische Gebiete klar getrennt:

Doch das Westjordanland hat sich im Lauf der Jahre durch die israelische Siedlungspolitik in einen Flickenteppich verwandelt, wo von zusammenhängenden palästinensischen Gebieten kaum mehr die Rede sein kann:

Wie sollte hier noch eine Territoriums-basierte Lösung möglich sein?!

Damit ist das Grundproblem angeschnitten: Territorialität vs. Ethnizität / Religion.

Netanyahu hat – im Verein mit seinen fundamentalistischen Koalitionären – die letzten Jahre konsequent daran gearbeitet, Israel von einem pluralistischen Rechtsstaat in einen jüdischen Staat zu transformieren, in einen „Gottesstaat„, in dem nur Juden einen Platz haben. Die Konsequenz – ethnisch-religiöse Säuberung des Staatsgebiets – hat er dabei bewusst einkalkuliert (vgl. o. sein zynisches Kalkül, durch Spaltung und Eskalation seine Macht zu befestigen). Cuius regio, eius religio: Wer die Macht hat, bestimmt die Religion. In meinem Herrschaftsgebiet haben nur Anhänger meiner Religion eine Existenzberechtigung.

Genau denselben Kurs verfechten die Hamas und die Hisbollah: Sie wollen das gesamte Territorium vom Jordan bis zum Mittelmeer („from the river to the sea“) in einen islamischen Gottesstaat verwandeln und es religiös-ethnisch restlos von den Israelis säubern. Das Massaker vom 7. Oktober war das jüngste und blutigste Fanal dieses totalitären Anspruchs.

Nota bene: nicht die Israelis und Palästinenser verfolgen diesen totalitären Kurs, sondern ihre Regierungen, und das aus zynischem Machtkalkül gegen die Interessen ihrer Völker, die seit Jahrzehnten mit ihrem Blut dafür bezahlen müssen.

In welcher Richtung kann also eine Lösung liegen? Man kann allgemein sagen:

  • Je mehr das Thema Territorialität maßgeblich ist, desto mehr wird der Konflikt weiter angeheizt.
  • Dem Konflikt wird hingegen umso die Nahrung entzogen, je mehr das Thema Territorialität in den Hintergrund tritt.

Das ist der Lackmustest.

Je mehr die israelische Regierung forciert, dass auf israelischem Territorium nur Juden eine Existenzberechtigung haben, und je mehr sie Palästinenser diskriminiert, desto mehr Öl schüttet sie ins Feuer.

Je mehr die Hamas forciert, dass auf dem Territorium zwischen Jordan und Mittelmeer nur Palästinenser eine Existenzberechtigung haben und sämtliche Juden dort auszurotten sind, desto mehr Öl schüttet sie ins Feuer.

Die aktuelle Krise ist in dieser Hinsicht nun eine einmalige Chance für die Zivilgesellschaft beider Völker, sich von ihren von Machtgier korrumpierten Regierungen zu befreien und in einer Graswurzelbewegung gemeinsam neue Wege zu gehen, wie es ja vereinzelt schon vielfach geschehen ist – tragischerweise sogar u.a. in jenem Kibbuz, in dem die Hamas am 7. Oktober in ihren Blutrausch gewütet hat.

Grundregel für diese Initiative ist: Staatsgrenzen (Territorialgrenzen) dürfen keine Religions- und Kulturgrenzen sein. Je freier Juden und Muslime ihre Religion und Kultur leben können, gleich auf welchem Flecken Territorium „between the river and the sea“, desto friedlicher wird ihre Koexistenz werden. Das in Frage stehende, gemeinsam bewohnte Territorium ist auf allen Ebenen gemeinsam zu verwalten, von repräsentativ zusammengesetzten Behörden.

Konkret angestoßen kann diese Initiative durch repräsentativ ausgeloste Institutionen werden, etwa durch einen entscheidungsbefugten Bürgerrat, der aus Israelis und Palästinensern zusammengesetzt ist. Dieser Bürgerrat wird jene überwältigende Mehrheit der israelischen wie der palästinensischen Zivilgesellschaft widerspiegeln, die von ihren Regierungen verraten und verkauft wurden und die seit langem eine friedliche Koexistenz wollen. Dort können die jahrzehntelangen Verletzungen und Probleme – mit professioneller Begleitung – zur Sprache gebracht werden, ohne dass die Gewalt und die Wunden gegeneinander aufgerechnet würden. Kein Unrecht rechtfertigt ein anderes. Das Leid ist auf beiden Seiten gleich real, und auf beiden Seiten sind vor allem die Politiker daran schuld, dass es nicht längst beendet ist. Es kann ein „Versöhnungsrat“ werden, wo endlich das gemeinsame Haupt-Anliegen umgesetzt wird: die friedliche Koexistenz und Kooperation beider Völker.

Eines gilt es dabei vor allem zu beachten: Kein Dogma hat sich in den letzten hundert Jahren als so verheerend erwiesen und so viele Tote gefordert wie das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Wer auf diesem Selbstbestimmungsrecht beharrt, legt den Grund für ethnische Säuberungen der Nicht-Dazugehörigen. Weder den Israelis noch den Palästinensern ist irgendein „Selbstbestimmungsrecht“ als Volk zuzuschreiben, denn das hätte die Diskriminierung, Vertreibung und Ausmerzung des jeweils anderen Volkes zur Folge. Die Menschen als Individuen müssen das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben haben! Selbstbestimmt in allen religiösen Anliegen, in allen kulturellen, in ihrer Sprache, in der Pflege ihrer Geschichte und Traditionen… Und ungeachtet all dieser ethnisch-kulturellen „Marker“ müssen die Menschen gleiche Rechte und Pflichte auf dem gemeinsam bewohnten Territorium haben, die von gemeinsam gebildeten Behörden nach dem Gleichheitsprinzip geordnet und gewahrt werden. Und was die wirtschaftliche Kooperation angeht: die tendierte ja ohnehin seit jeher zur Auflösung aller hinderlichen Grenzen und wurde auch nur aus politischem Nutzenkalkül immer wieder eingeschränkt.

In einer zweiten Phase kann dieser Versöhnungsrat Los-basierte legislative und exekutive Institutionen gründen. Dass sie auf repräsentativer Zufallswahl basieren müssen, sollte aufgrund der Macht-Korrumpierung ihrer bisherigen Parteien und Regierungen selbstverständlich sein. Niemand mit politischen Ambitionen und niemand mit einer religiösen Agenda darf mehr die Geschicke dieses geschundenen Landes beeinflussen können. Staat und Religion sind ebenso strikt zu trennen wie Staat und Nation (Ethnie).

Ich habe schon oft für das Losdemokratie-Modell von Terry Bouricius, einem US-amerikanischen Politikwissenschaftler und langjährigem unabhängigen Abgeordneten geworben:

  1. In einem aus allen Bevölkerungsgruppen repräsentativ ausgelosten Agenda-Rat kommen Gesetzgebungs-Themen aus verschiedenen Quellen zusammen. Er entscheidet dann, für welche Themen Gesetze geschrieben oder geändert werden müssen. Die Bürger haben ein Petitionsrecht, um Gesetzgebungen einzuleiten.
  2. Sobald ein Thema ausgewählt ist, wird nach Freiwilligen für den Entwurfs-Ausschuss gesucht. Sie erarbeiten einen Gesetzentwurf. Die diversen Interessengruppen können alles daran setzen, ihre Überzeugungen und Anliegen zu Gesetzen zu machen: sie haben keinerlei Einfluss auf die spätere Entscheidung.
  3. Für jede Gesetzesvorlage prüft ein repräsentativ ausgeloster Ausschuss den Entwurf der Interessengruppen, nimmt Expertenaussagen entgegen, hält Anhörungen ab, ändert und kombiniert Gesetzentwürfe und entscheidet mit Mehrheit über endgültige Vorlagen, die in die Abstimmungsphase gehen.
  4. Jeder Gesetzentwurf kommt in eine – jeweils neu ausgeloste – gesetzgebende Versammlung. Deren repräsentativ ausgeloste Mitglieder treffen sich bis zu einer Woche lang, hören sich Pro- und Contra-Argumente an und beschließen – ohne interne Debatte – in geheimer Abstimmung.

Dieses Procedere wird von einem Regelrat im Detail ausarbeitet und ggf. optimiert. Ein Kontrollrat wacht über seine korrekte Einhaltung und Umsetzung. Zusammengefasst:

Was die Exekutive betrifft, ist analog zu verfahren: Entscheidungs- und Kontrollorgane sind per Los repräsentativ zu ermitteln und im Rotationsverfahren auszuwechseln.

  • Ein repräsentativ ausgeloster Einstellungsausschuss stellt die Führungskräfte der Exekutive an. Er prüft i.d.F. auch die Posten-Entscheidungen der leitenden Exekutiv-Organe bzgl. der zweiten Führungsebene.
  • Die Leiter der Exekutive sind in ihrem jeweiligen Ressort verantwortlich für die Umsetzung der Gesetze. Sie haben aber keine Richtlinienkompetenz. Sie regieren nicht; sie verwalten. Die Qualität ihrer Arbeit wird regelmäßig evaluiert (s.u.), sodass von vornherein keine Notwendigkeit einer Befristung ihrer Amtstätigkeit besteht. Sie können ja nötigenfalls entlassen werden.
  • Kontrolliert werden die erste und zweite Führungsebene während ihrer Aktivität von einem repräsentativ ausgelosten Aufsichtsrat, der entweder auf eigene Initiative in ihre Tätigkeit interveniert oder aufgrund anderer Beschwerden.
  • Sollte eine Entlassung zur Diskussion stehen, prüft eine ausgeloste Schiedsstelle die Faktenlage und Argumente, und entscheidet.
  • Ein ausgeloster Revisionsausschuss kontrolliert, ob sich der Aufsichtsrat an seine Verfahrensregeln hält.
  • Diese Verfahrensregeln werden im Detail von einem Regelrat ausgearbeitet und weiter optimiert.

Zusammengefasst:

Eine andere Möglichkeit ist das venezianische Losverfahren, bei dem in mehreren aufeinanderfolgenden Los-Ziehungen eine Korrumpierung des Auswahlverfahrens weitestgehend ausgeschlossen ist. Denn eins ist entscheidend: dass keine Polit-Karrieristen und keine religiösen Eiferer ihre persönlichen Macht-Ambitionen dabei geltend machen können.

Für die konkrete Arbeit der legislativen und exekutiven Organe kann der skizzierte Entwicklungs-Kompass entlang der drei gesellschaftlichen Grundbedürfnissen der Menschen eine Orientierung sein:

  • Freiheit der Individuen in allen religiösen und kulturellen Belangen;
  • Gleichheit aller (!) Bürger in ihren Rechten und Pflichten, ohne Rücksicht auf ihre Religion und Ethnie; sowie
  • Brüderlichkeit (i.S.v. Kooperation zum größtmöglichen Allgemeinwohl) der wirtschaftlichen Akteure.

Es liegt auf der Hand, wer sich am vehementesten gegen jede solche Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft wehren wird: die aktuellen Machthaber, die damit am meisten zu verlieren haben. Aber über kurz oder lang führt weder für die israelische noch für die palästinensische Zivilgesellschaft ein Weg daran vorbei, wenn sie den unsäglichen Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen wollen. Wenn ich die unermüdlichen Massenproteste der Israelis gegen Netanyahus Justiz-Coup sehe und die gemeinsamen Bemühungen von Israelis und Palästinensern um friedliche Koexistenz, stimmt mich das – trotz der neuerlichen Gewalt, trotz des neuerlichen Leids – zuversichtlich.

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