AFD-VERBOT: EINE SCHEINLÖSUNG

Seit die AfD in mehreren deutschen Bundesländern vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ beobachtet wird, häufen sich die Forderungen nach einem präventiven Verbot dieser Partei bzw. nach einer Grundrechtsverwirkung ihrer Repräsentanten (vgl. die juristische Diskussion dazu z.B. im Verfassungsblog). Aber: Was bringt das letzten Endes, wenn der Schuss nach hinten losgeht und die AfD-Wählerschaft in ihren Urteilen dadurch noch mehr bestärkt wird?

„Die Ursachen verbreiteter politischer Unzufriedenheit, die sich in Misstrauen gegenüber den schon länger etablierten Parteien und bei nicht Wenigen in Misstrauen gegen das gesamte politische System niederschlagen, sind mit den spezifischen Mitteln der „wehrhaften Demokratie“ nicht zu beseitigen.“

(Gertrude Lübbe-Wolff, ebd.)

Eine spannende Diskussion hierzu spielt sich derzeit auf Bluesky ab, wo in diesem Zusammenhang das Dilemma diskutiert wird, dass es Parteien wären, die die AfD verbieten würden – auch wenn der Fraktionszwang aufgehoben würde und die Abgeordneten nach ihrem Gewissen entscheiden könnten (aber eben doch Partei-Abgeordnete). M.a.W., eine Parteien-Mehrheit verbietet ihre gefährlichste Konkurrenz-Partei.

Meines Erachtens wird bei der Frage zu wenig zwischen der AfD und ihrer Wählerschaft differenziert. Gertrude Lübbe-Wolff betont deshalb in ihrem bereits zitierten Beitrag sehr zu Recht,

„dass im Hinblick auf die AfD ein Verbot auch nur einzelner Landesverbände mit einem hohen Risiko belastet wäre, das schwindende Demokratievertrauen großer Teil der Bevölkerung nur noch weiter zu erschüttern, insbesondere bei dem großen Teil der AfD-Wähler, die dieser Partei nicht aufgrund einer extremistischen Haltung zuneigen, sondern weil sie Anliegen, die man haben kann, ohne mit der freiheitlichen Demokratie auf Kriegsfuß zu stehen, derzeit bei keiner anderen Partei ausreichend vertreten finden.“

Es mag also von kurzfristigem Nutzen sein, die AfD zu verbieten, ehe sie so stark wird, dass sie selbst das im Bundestag verhindern kann. Dem eigentlichen Problem kommt man damit aber nicht bei: dass ein erheblicher Teil der AfD-Wähler zwar rechts, aber nicht rechtsextrem ist, aber vor allem – aus welchen Gründen und mit welcher Berechtigung auch immer – enttäuscht, frustriert, wütend, trotzig…… Mit einem Verbot der AfD als Partei werden beide Wähler-„Gruppen“ – sie sind nicht wirklich als Gruppen klar von einander abzugrenzen – 1. in einen Topf geschmissen und 2. ihrer Möglichkeit, ihre gesellschaftlichen Meinungen und Anliegen zu manifestieren beraubt. Was sie garantiert nicht einfach so hinnehmen werden. Die Wählerschaft der AfD hat einen systemischen Impetus, der sich mit einem Verbot ihres politischen Arms nicht einfach so in Luft auflöst. Dieser Impetus wird sich andere, unvorhersehbare Manifestationsformen suchen, die vermutlich noch destruktiver sein werden als die bisherigen. Es wäre ein Paradebeispiel für den System-Archetyp der „Problemverschiebung“, wo eine Scheinlösung letztendlich zu mehr Schaden führt als jede grundlegende Lösung.

„Die Verfassung schreibt uns nur die Methoden vor, nicht aber das Ziel. Wir werden auf diesem verfassungsmäßigen Wege die ausschlaggebenden Mehrheiten in den gesetzgebenden Körperschaften zu erlangen versuchen, um in dem Augenblick, wo uns das gelingt, den Staat in die Form zu bringen, die unseren Ideen entspricht.“ – Adolf Hitler 1930. Drei Jahre später war er demokratisch gewählt.

Um eine grundlegende Lösung zu finden, muss aber erst die Grundfrage formuliert werden. Und die lautet – so neutral wie irgend möglich formuliert –: „Unter welchen Verhältnissen sind die Menschen in der Lage, ihre sozialen Meinungen, ihren sozialen Willen wirklich zum Ausdruck zu bringen?“ (Rudolf Steiner) Wie können die Menschen von ihren parteipolitischen Überzeugungen – die ja kein ursprüngliches Bedürfnis sind, sondern die bislang einzige Form, dieses politisch zu äußern! – zurück zu ihrem eigentlichen Bedürfnis als Mitglieder der Gesellschaft zurückfinden? Und in welchen Strukturen und Prozessen ist ihnen dies möglich?

Bislang, in der Parteiendemokratie, ist ihnen das nur im Rahmen von Parteien möglich. Was für ihre realen Bedürfnisse als Mitglieder der Gesellschaft a priori ein Prokrustesbett ist – ein starrer Rahmen, in dem sich einerseits vieles spurlos verliert und andererseits vieles nicht hineinpasst und ausgegrenzt wird. Es bleibt ihnen aber nichts übrig, als aus dem ganzen Strauß ihrer sozialen Überzeugungen und Anliegen diejenigen auszuwählen (und alle anderen b.a.w. abzuschreiben), die am meisten in das Programm einer bestehenden Partei passen. In den Raster eines Parteiprogramms – rot oder schwarz oder gelb oder grün oder blau… – kann aber a priori nicht das ganze Spektrum der gesellschaftlichen Anliegen der Menschen hineinpassen. Bildungspolitik, Wissenschaftspolitik, Wirtschaftspolitik, Sicherheitspolitik, Außenpolitik, Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, Klimapolitik… – immer ist sie Parteipolitik der jeweiligen Regierung, und immer radieren diese Wahlgewinner die Spuren jeder früheren / anderen Regierungspartei / Regierungspolitik so weit wie möglich aus.

Wie sollten sich die Bürger hierin wiederfinden? Wie sollten sie das begründete Gefühl haben, real Einfluss nehmen zu können? „Wählen heißt abdanken“ (Élisée Reclus) und sich in der Illusion wiegen, sein Möglichstes getan zu haben. Wenn die Regierenden hingegen immer und immer wieder mit ihrer Politik belegen, dass ihre Repräsentation der Bürger nur ein Lippenbekenntnis ist, das sie nach den Wahlen herzlich wenig kümmert: dann kommt die Phase, wo radikale Parteien wie die AfD dieses Repräsentationsdefizit für sich instrumentalisieren. Durch das Schüren von Angst, Spaltung, Zwietracht, Wut… befeuern sie genau jene Stimmung, auf der ihre Stimmengewinne beruht. Solche Parteien sind aber wie gesagt nicht das Grundproblem; sie sind das Symptom, nicht die Krankheit. Und die Krankheit heißt: Repräsentationsdefizit, oder positiv formuliert: „unter welchen Verhältnissen […] die Menschen in der Lage [sind], ihre sozialen Meinungen, ihren sozialen Willen wirklich zum Ausdruck zu bringen“.

Dieses Zum-Ausdruck-Bringen und Geltendmachen ist in einer Parteiendemokratie theoretisch nur partiell möglich – im Rahmen des jeweiligen Parteiprogramms – und praktisch überhaupt nicht. Es ist die pure Augenauswischerei, den Bürgern weiszumachen, ihr (Zig-)Millionstel-Anteil am Ausgang einer Wahl wäre die Ausübung ihrer Souveränität („die höchste Gewalt geht vom Volke aus“). Mangels Besseren vielleicht als Ersatz – wenn man alle Hühneraugen zudrückt. Aber real heißt Wählen für den Souverän, dass er danach auch gleich wieder als Souverän abgedankt hat – bis zur nächsten Wahl, wo sich das Trugspiel wiederholt. So lange, bis die Bürger realisieren, dass sie eben nicht in der Lage sind, „ihre sozialen Meinungen, ihren sozialen Willen wirklich zum Ausdruck zu bringen“. Und als Antwort teils aus Wut und Trotz, teils aus Überzeugung Radikale wählen.

Welche Strukturen und Prozesse sind also in der Lage, diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen, wenn nicht Parteien und Wahlen? Nur solche, die die Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt tatsächlich repräsentieren – mundus in gutta, die Welt (das Ganze) im Tropfen (im Teil). Auf ein Parlament angewendet: Von jedem Aspekt der Gesellschaft, von jeder Schicht, von jeder relevanten Gruppe muss ein – ihrer Größe entsprechender – Teil dort anwesend sein und die Meinungen, den sozialen Willen dieses Teils zum Ausdruck bringen können. Kein Parteien-Filter, der alles heraussiebt, was nicht in seine Ideologie passt: alles ist anwesend, Tropfen des Meeres.

Ich stelle mir gerade eine Umfrage vor: „Wem würden Sie eher zutrauen, für das langfristig größtmögliche Wohl der größtmöglichen Anzahl Gesetze zu beschließen: den derzeitigen Parteien oder den ersten 600 Personen aus dem Telefonbuch?“ [OK, es gibt keine Telefonbücher mehr; aber das Prinzip ist verständlich.] Was käme dabei wohl heraus? Würden in Ostdeutschland 30% der Menschen tatsächlich antworten: der AfD? Würde in Österreich tatsächlich ein Drittel aus voller Überzeugung antworten: der FPÖ? Oder wie viele Menschen würden merken, dass nicht nur ihre sozialen Meinungen, ihr sozialer Wille bei den 600 zufällig ausgewählten Parlamentariern vertreten wäre, sondern die der ganzen Gesellschaft? Was zugleich das Ende jeder gesellschaftlichen Spaltung, jedes „Klassenkampfes“… wäre!

Was könnte also repräsentativer für die Meinungen und den Willen der gesamten Gesellschaft sein, als dieses Parlament aus allen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen… auszulosen? Und sich ständig zu erneuern, indem seine Mitglieder in einem zeitlich versetzten Rotationsverfahren immer wieder ausgewechselt werden?

Damit nicht nur vorgefasste Meinungen dort konfrontativ aufeinandertreffen; damit die Menschen ihre Meinungen offen austauschen, in Frage stellen, abwägen, klären, relativieren, revidieren…, ist die fixe Einbeziehung professioneller Moderatoren notwendig. Auch Fachleute für das jeweilige Gesetzesthema sind hilfreich und nützlich. Terrill Bouricius, ein US-Politikwissenschaftler und langjähriger politischer Praktiker, hat auf Grundlage seiner Forschung und Erfahrung ausdifferenzierte Strukturen und Abläufe erarbeitet (vgl. meinen früheren Beitrag). Sie wären die „Erfüllung“ des Versprechens der zahlreichen, überall erfolgreichen Bürgerräte: echte Repräsentation der gesamten Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt – miteinander reden anstatt über einander; einander zuhören und verstehen statt polarisieren und streiten; gemeinsam Lösungen entwickeln statt gegen einander zu arbeiten und Lösungen zu verhindern; mit der Umsetzung dieser Lösungen eine (parteilose) Expertenregierung zu beauftragen, die von ausgelosten Gremien nach bestem Wissen und Gewissen eingesetzt und kontrolliert wird (und ggf. auch abgesetzt).

Wenn ich die gesellschaftliche und politische Entwicklung der letzten Jahre überschaue, sehe ich die demokratischen Gesellschaften weltweit an einer Wegscheide: entweder ein weiterer Absturz der Parteiendemokratie in Populismus, sowie weichen und i.d.F. harten Autoritarismus, oder ihre Weiterentwicklung zur Losdemokratie.

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